Die Bedeutung des Lehrers im Kung Fu und der Kampfkunst


Dieses Wochenende ist wieder das jährliche Lehrer-Treffen der International Weng Chun Association in Bamberg.
Dies möchte ich nutzen, um über die Bedeutung des Lehrers im Kung Fu zu schreiben.

Eine Vorgeschichte

Als ich 13 Jahre war, habe ich einmal an einem Probetraining von irgendeinem Kung Fu - Stil teilgenommen. Am Anfang des Trainings mussten wir uns vor einem Poster von einem Kung Fu Meister aus China aufstellen und uns verbeugen. Ich hatte keinerlei Bezug dazu und meiner Mutter war dies so befremdlich, dass ich dort nicht trainieren durfte... Meinen Weg zur Kampfkunst fand ich dann erst 7 Jahre später, aber das ist eine andere Geschichte...

Die Geschichte der Lehrer im Weng Chun

Jeder, der eine Weile Weng Chun trainiert, kennt früher oder später die Geschichte von Großmeister Andreas Hoffmann, der in den 80er nach Hong Kong - China gereist ist und dort vom letzten chinesischen Großmeister Wai Yan Weng Chun Kung Fu gelernt hat.

Die Geschichte des Weng Chun geht aber viele hunderte Jahre zurück, was für heutige Kampfkünste absolut nicht selbstverständlich ist! Im Laufe der Jahre gab es einige Meister, die das Weng Chun bewahrt und weitergeben haben, trotzt aller Umstände.

Über den buddhistischen Mönch Bodhidharma der im Jahre 520 n. Chr. als Begründer gilt, über den letzten Shaolin Abt Chi Sin Sim Si Klosters vor seiner Zerstörung bis hin zu den vielen Meistern der Familien gab es viele Lehrer & Meister. Sie alle leben durch unser Praktizieren der Kampfkunst quasi weiter.

Wichtig ist auch zu verstehen, dass im letzten Jahrhundert Kung Fu als Kampfkunst in China vor allem durch & innerhalb Familien weitergegeben wurde. Jede Familie hatte seine eigenen Besonderheiten wie z.B. Form, Waffen oder Trainingsmethoden.
Das ist wichtig zu verstehen, auch um die noch heute wichtige Bedeutung des Lehrers zu verstehen:
auch heute spürt man noch die familiäre Atmosphäre innerhalb der Weng Chun Kung Fu Gemeinschaft!

Ich bin sehr froh und dankbar durch meinen Lehrer Meister Michael Berger, welcher direkt von Großmeister Andreas Hoffmann gelernt hat und immer noch lernt, mit der Weng Chun Linie in Verbindung zu stehen.

GM Wai Yan (links) und GM Andres Hoffmann



Stammbaum des Weng Chun Kung Fu

Jeder ist "Si" = Lehrer

Im Weng Chun ist jeder "Si", was Lehrer bedeutet. Egal ob Anfänger, Fortgeschrittener oder Meister - jeder lernt von jedem. Der Anfänger vom Fortgeschrittenen und der Lehrer auch vom Anfänger, nämlich wie er z.B. noch besser unterrichten kann.
Ich hab diese Philosophie auch für meinen Alltag übernommen.

Natürlich unterscheidet man verschiedene "Si"s:

Si-Hing: brüderlicher Lehrer
Si-Je: schwesterliche Lehrerin

Dai Si Hing: älterer, brüderlicher Lehrer
Dai Si Je: ältere, schwesterliche Lehrerin

Sifu: väterlicher Lehrer
Si-Gong: großväterlicher Lehrer

Am Anfang jeder Übe-Stunde wird mit dem Tiger und Drachen Gruß (eine Faust & eine offene Hand) jeder begrüßt und wertgeschätzt - denn jeder ist Si!

Der persönliche Kontakt zu seinem Lehrer

Wer einmal in einer Weng Chun Schule war, hat wahrscheinlich ein Bild von Großmeister Wai Yan gesehen und von Großmeister Andreas Hoffmann in der Schule hängen sehen.

Das kommt unter anderem daher, dass alle einen engen Kontakt zu GM Andreas Hoffmann haben und dies auch einfach zeigen wollen.
Allerdings wird sich nicht vor den Postern verbeugt oder ähnliches. Viel mehr ist der Respekt & die Anerkennung eine innere Haltung, die wirklich gelebt wird.

Wer einmal auf einem Seminar von GM Andreas Hoffmann war, spürt direkt seine Verbundenheit zu seinem mittlerweile verstorbenen Lehrer Wai Yan. Man kann es mit Worten gar nicht wirklich beschreiben, aber man fühlt es.

Ich selbst habe eher zu GM Andreas Hoffmann und Meister Sifu Michael Berger diese Verbindung, was sicherlich auch an den unterschiedlichen Generationen liegt.
Es ist ein bisschen so wie in einer Familie:
zu meinem "Ur-Großvater" (Wai Yan) habe ich sicherlich ein anderes Verhältnis als zu meinem "Großvater" (Andreas Hoffmann) oder meinem "Vater" (Michael Berger).

Kung Fu lebt vor allem durch die persönlichen Unterweisungen und den direkten Kontakt.
Mein Lehrer fährt immer noch mindestens einmal im Monat nach Bamberg zu unserem Großmeister, was ich sehr inspirierend finde.
Ich selbst schaffe es nicht einmal so oft zu meinem Lehrer, der deutlich näher wohnt, geschweige denn unser Großmeister, der früher jedes Mal nach China fliegen musste...


GM Andreas Hoffmann (links) und Meister Sifu Michael Berger (rechts) überreichen mir meine rote Scherpe 2018


Bild nach einer Privatstunde mit meinem Lehrer Michael Berger

Es ist die Kampfkunst, die uns alle miteinander verbindet.

Und dennoch fühle ich mich verbunden. Verbunden mit meinen Lehrern, mit der Kunst und der Idee, die hinter all dem steht.

Kung Fu & Kampfkunst ist für viele mehr als nur ein Hobby. Es ist ein Lebensweg, den wir bestreiten. Und oft geht es nicht darum, etwas zu sein oder zu erreichen, sondern es zu versuchen.
Im Alltag und bei all den Herausforderungen des Lebens, die uns tagtäglich begegnen. Im Moment zu sein und diesen als Übepraxis zu nutzen.

Wie in fast jeder Familie gibt es auch Streit & Unstimmigkeiten und manchmal trennt man sich auch. GM Andreas Hoffmann versteht es auf eine ganz besondere Weise daraus kein "Drama" zu machen, sondern damit einen respektvollen Umgang zu praktizieren. Auch daran nehme ich mir ein Vorbild.

Im Herzen fühle ich mich zutiefst verbunden mit meiner Kung Fu Familie.
Wer auch einmal über den Tellerrand schaut und seine andere Familien besucht, wird feststellen, dass er in der Weng Chun Familie immer warm empfangen wird.
Ich selbst durfte schon bei Meister Sebastian Mehler in Gerlingen mittrainieren und auch der Empfang von Meister David Dizon in Pasadena (Los Angeles) war großartig, um nur mal zwei zu nennen.

Jeder Lehrer hat seine eigene "Spezialität", seine Meisterschaft, die ihn zu einem besonderen Lehrer macht. Meister David Dizon hat sich z.B. intensiv mit dem Thema "Kleidung-Greifen" (geht in der Übersetzung etwas verloren) beschäftigt.



Privatstunde mit Meister David Dizon

Meister Sebastian Mehler ist z.B. ein ausgezeichneter Wettkämpfer. Wer Sanda & Kampfstrategien lernen will, geht zu ihm.
Meister Nikolai Grebenovsky ist bekannt für seine Fähigkeiten mit dem Langstock.

Auch hier ist es wie in einer großen Familie: Jeder kann etwas Besonderes und unterstützt den anderen. GM Andreas Hoffmann hat einmal sinngemäß gesagt: "Wenn ich zu einem speziellen Thema etwas habe, dann spreche ich mit dem entsprechenden Meister dazu" und auch das ist etwas ganz Besonderes.

So kann man heute wieder zu verschiedenen Meistern reisen und sich in ihrer "Spezialität" unterrichten lassen. GM Andreas Hoffmann hat dies zu seiner Zeit in China auch getan - lange war dies für uns allerdings nicht möglich, da es einfach kaum mehr Meister gab.

Abschluss

Die Geschichte der Lehrer im Weng Chun Kung Fu ist lang und noch heute kann man durch die Sifus & Meister mit dieser Tradition in Verbindung stehen. Dabei ist jeder Si = Lehrer und Kung Fu ist wie eine Familie für viele Praktizierenden.


In diesem Sinne: mögen alle geschützt sein!

dein Kung Fu Tobi

*Disclaimer: die Blogbeiträge spiegeln meine eigene Meinung & Erfahrungen als Weng Chun Kung Fu Praktizierender wider. Es handelt sich um "private" Blogbeiträge.


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